Navigation schließen
Left
  • John Neumeier, Hermann Reichenspurner, Peter Tschentscher, Marcel Schweitzer, Jörn Rieckhoff (von links, im Uhrzeigersinn) Photo @ Kiran West
Right

Ein Spitzentreffen – Kultur und Politik

Hamburg, 6. August 2020
John Neumeier empfängt in seiner Stiftung Peter Tschentscher. Gemeinsam mit Hermann Reichenspurner und Jörn Rieckhoff entsteht ein zwangloser Austausch über die Situation unserer Gesellschaft und deren Bedeutung für die Kunst

"Ghost Light" ist die erste Aufführung des Hamburg Ballett seit dem Lockdown Mitte März im Zuge der Covid-19-Pandemie. Es ist das weltweit erste, neu entstandene, abendfüllende Ensemble-Ballett für eine große Compagnie. John Neumeier greift darin die Kontaktbeschränkungen der vergangenen Monate künstlerisch auf. Weil Kunst und Leben ganz neu ineinandergreifen, hat er für das Interview zur Entstehung seines 163. Balletts einen ganz besonderen Gast eingeladen.

Ein sonniger Tag im warmen Hamburger Sommer. Der Erste Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher ist erst wenige Tage aus seinem Urlaub zurück, und nimmt sich in Begleitung seines Sprechers Marcel Schweitzer einen Vormittag Zeit, um Hamburgs Ehrenbürger Prof. John Neumeier und seiner Ballett-Sammlung einen Besuch abzustatten. Der Hausherr öffnet persönlich die Tür, die Begrüßung ist herzlich – man kennt und schätzt sich von offiziellen Terminen wie dem Matthiae-Mahl und Senatsempfängen, aber auch von wichtigen Ballett-Aufführungen der letzten Zeit: der Uraufführung von John Neumeiers "Beethoven-Projekt" und der Ballett-Gala "The World of John Neumeier" an seinem 80. Geburtstag.

John Neumeier bittet Peter Tschentscher in die Bibliothek und zeigt ihm das Ballett-Buch, das er sich als Kind von seinem Ferientaschengeld gekauft hat und das zum Grundstock seiner rund 50.000 Objekte umfassenden Sammlung wurde. Bei Tee und Gebäck kommt man schnell ins Gespräch. Mit am Tisch sitzen John Neumeiers Mann Prof. Dr. Dr. Hermann Reichenspurner, Direktor der Klinik und stellvertretender Ärztlicher Leiter des Universitären Herzzentrums am UKE und Vorstandsmitglied der Stiftung John Neumeier, sowie Dr. Jörn Rieckhoff, Kommunikationschef des Hamburg Ballett.

JÖRN RIECKHOFF: Wir befinden uns mitten in einer Pandemie. Was gesellschaftlich entschieden wird, hat plötzlich viel direktere Auswirkungen auf das, was ein Künstler tun darf. In dieser Situation hatte John Neumeier das Gefühl, man müsse das Gespräch mit Persönlichkeiten suchen, die einen weiten Erfahrungshorizont mitbringen. Wir wollen heute daher nicht nur, aber sicherlich auch über Ballett reden.

Herr Tschentscher, Sie müssen Hamburg oft in der Welt vertreten. Sehen Sie die Mentalität der Hamburger und die traditionelle Offenheit unserer Stadt als Vorteil in der Bewältigung der aktuellen Covid-19-Pandemie?

PETER TSCHENTSCHER: Ja, wir sind durch hanseatische Nüchternheit, unsere ruhige Art gerade ein bisschen im Vorteil. Dadurch, dass wir auch diszipliniert sind und meistens risikobewusst – aber eben nicht ängstlich, letztlich sogar optimistisch. Und das braucht man ja. Wir müssen hoffen, dass wir eine Impfung bekommen, dass wir aus dieser Infektionsgefahr irgendwann herauskommen und wieder unbefangener leben können. Das ist unsere Hoffnung. Sie ist nicht unbegründet, aber sie ist nicht sicher.

JÖRN RIECKHOFF: Auch wir als Ballett richten einen sachlichen Blick auf die Situation. Daher sitzen wir hier ohne Maske zusammen – auch, weil wir den nötigen Abstand einhalten und bei Bedarf das Fenster rechtzeitig öffnen.

Die internationale Ausstrahlung ist für Sie, John, und auch für das Hamburg Ballett extrem wichtig. Umso existenzieller haben die Proben- und Aufführungsverbote des Lockdowns seit Mitte März die Compagnie getroffen. Wie sind Sie persönlich damit umgegangen?

JOHN NEUMEIER: Es ist mir sehr wichtig, dass wir uns hier mit Ihnen, Herr Tschentscher, austauschen können. In keiner anderen Zeit – vielleicht seit dem 17. oder 18. Jahrhundert – waren sich Politik und Kunst so nah wie in diesem Moment. Vor zwei Tagen, zum Beispiel, musste ich mich auseinandersetzen mit der Unfallkasse Nord und dem Amt für Arbeitsschutz, um einen Dialog zu initiieren. Wie Sie es ausgedrückt haben: um vorsichtig, aber nicht ängstlich in der Sache voranzugehen.

Wir haben die letzte richtige Probe am 13. März gehabt. Dann kam der Lockdown. Die Tänzer haben die Situation heroisch gemeistert: Durch die Nutzung der Videokonferenz-Software "Zoom" konnten sie und auch unsere Schüler bei sich zu Hause ein professionell angeleitetes Training absolvieren. Das bedeutete für die Theaterklassen, die sehr international sind und deren Mitglieder u. a. aus Brasilien, China und Tokio kommen, dass für einige das Training um 2 Uhr morgens stattfand. Wenn man die hochmotivierten Gesichter der Schüler sieht – das ist wirklich bewegend!

Schon bald versuchte ich, in Abstimmung mit unserem Betriebsrat und unserer Betriebsärztin ein Training im Ballettzentrum zu ermöglichen. Ich fand unseren Schumacher-Bau schon immer toll, aber aus der Perspektive des Jahres 2020 scheint er wie gemacht für die Corona-Zeit: Alle Räume haben Fenster auf beiden Seiten, sodass man ständig durchlüften kann.

Ich habe ein Konzept entwickelt, dass man in Gruppen von sechs oder sieben Tänzern trainieren könnte, sodass alle 60 Tänzer über den Tag verteilt wenigstens ein Training machen könnten. Im zweiten Anlauf war mein Antrag erfolgreich, und wir durften am 28. April beginnen. Als ich wie ein Arzt zur Visite durch die Ballettsäle ging, wurde mir bewusst, dass ich etwas machen müsste, damit unser "Ensemble-Geist" aufrechterhalten bleibt. Man trainiert allein, beschäftigt sich mit seiner eigenen Technik, ohne andere anzufassen. Meine Idee war: Ich muss ein Ballett kreieren, das ähnlich funktioniert wie dieses Training: in Kleingruppen; lediglich Paare dürfen zusammen tanzen. Ich habe mich für Klaviermusik von Franz Schubert entschieden – auch, weil der Auftritt mit einem Orchester zu diesem Zeitpunkt unerreichbar schien.

Ein Artikel in der New York Times über die Situation am Broadway hat mich dazu angeregt, das Ballett "Ghost Light" zu nennen.
Der Begriff kommt aus dem viktorianischen Theater. Man hat nach einer Probe oder Vorstellung ein einziges Licht auf die Bühne gestellt, damit die Geister von verstorbenen Künstlern durch die Nacht spielen könnten. Wie das ewige Licht in der Kirche bleibt dieses Licht bis zum nächsten Tag, wenn das Leben wieder beginnt. Diese Idee ist von den US-Bühnen-Gewerkschaften übernommen worden: Eine eher hässliche Stange mit einer Birne wird auf die Bühne gestellt, und ab diesem Moment darf man sie nicht mehr betreten, bis zur Probe am nächsten Tag. In diesen Monaten brennen am Broadway 23 Ghost Lights, weil alle Theater geschlossen sind.

Ich habe das Ballett konzipiert und begonnen, zunächst ohne zu wissen, wie und wo oder ob es überhaupt aufgeführt werden könnte. Die Aktion, dieses Werk in Angriff zu nehmen, war absolut essenziell für die Berufung der Tänzer. Wir machen nicht Sport. Tanz ist eine physische Tätigkeit, deren Technik zu einer Artikulation führt, die mehr bedeutet als nur, wie hoch oder weit ich springe. Es geht um den Ausdruck von Emotionen. Dieses Werk soll nun am 6. September Premiere haben.

JÖRN RIECKHOFF: Das ist eine ermutigende Perspektive; bei unserem Herbst-Gastspiel in Baden-Baden wird "Ghost Light" sogar von Arte aufgezeichnet und als Livestream veröffentlicht. In der Situation des Lockdowns fand ich es bemerkenswert, wie schnell Sie, John, einen Standpunkt eingenommen haben und gesagt haben: Wir wollen zurück in den Ballettsaal, ich mache etwas Kreatives aus der Situation – für alle 55 Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Ballett.

Diese Art innerer Stabilität und persönlicher Haltung habe ich auch bei Ihnen, Herr Tschentscher, auf der politischen Bühne wahrgenommen. Trotz der Unsicherheiten der Pandemie sah man Sie wiederholt an der Seite von Angela Merkel in der Bundespressekonferenz mit vorsichtigen, aber durchdachten und stets faktenbasierten Einlassungen. Bitte erzählen Sie ein wenig, wie Sie diese Zeit im Rückblick empfunden haben.

PETER TSCHENTSCHER: Wir haben natürlich erst einmal Entscheidungen treffen müssen auf einer unsicheren Informationslage.
Wir mussten deshalb aus Vorsichtsgründen erst einmal vieles einschränken. Da wir nicht wissen konnten, wie genau sich das Virus verbreitet. Es gab, auch von Experten, unterschiedliche Annahmen zu dem Virus. Das ist wie in eine Gewitterfront zu fahren. Man sieht nicht, was kommt. Man kann nicht einfach Gas geben und mit unverminderter Geschwindigkeit weiterfahren, weil man sich denkt: Wird schon gutgehen. Man muss erst einmal alle Lichter anstellen, die Geschwindigkeit rausnehmen und sich herantasten.

Dann haben wir schrittweise sortiert, wo wir Dinge wieder ganz regulär betreiben, wo wir unter Auflagen Lockerungen zulassen können. Dabei haben wir immer versucht, den Punkt zu vermeiden, wo es zu viel ist und wir wieder in ein Infektionsgeschehen kommen, das uns zurückwirft. Denn das, glaube ich, wäre für die Psychologie und die Wirtschaft sehr schwer, wenn man sagt: Bisher haben wir uns gut durchgesteuert – aber jetzt geht es wieder zurück. Jetzt müssen wir John Neumeiers Uraufführung doch wieder absagen.

Deswegen haben wir in Hamburg immer wieder gesagt: Wir machen jetzt etwas, und damit wir beurteilen können, ob es vorsichtig genug war, müssen wir einige Wochen Abstand haben, um zu sehen: Verbreitet sich das Virus wieder schneller? Und deswegen dauerte es seine Zeit, bis man wieder in einem nächsten Bereich Lockerungen machen konnte. Denn wenn Sie in allen Bereichen gleichzeitig etwas tun, dann weiß man hinterher nicht: Kommt eine Wiederzunahme der Infektionsrate eher aus dem Sport, aus dem Einzelhandel oder aus einem anderen Bereich?

Das war schon jeden Tag eine Disziplin, weil ja ganz viele Forderungen gleichzeitig kamen. Alle fühlten sich selbst sehr stark betroffen und fragten als Erstes: Was ist mit mir? Warum können die schon beginnen, und warum darf ich noch nicht? Das war schon eine sehr anstrengende Abwägungssache. Deswegen auch diese häufigen Konferenzen mit der Bundesregierung und den anderen Ministerpräsidenten.

Ich habe das Gefühl gehabt im Laufe der Wochen, dass allmählich der Druck aus der gesamten Situation gewichen ist. Aber wir haben eben Bereiche, die noch immer sehr stark betroffen sind. Dazu gehört die Kultur, die Kunst. Es wird in der Staatsoper ja nicht volle Besetzung sein bei Ihrer Premiere.

JOHN NEUMEIER: Wir dürfen uns bis jetzt nicht anfassen.

PETER TSCHENTSCHER: Das kommt dazu, aber die Atmosphäre im Zuschauerraum wird anders sein als sonst, auch in Theatern und bei Konzerten. Immerhin sind Aufführungen überhaupt wieder live und direkt möglich. Aber über allem steht das große Fragezeichen: Kann es so bleiben? Glücklicherweise ist die Akzeptanz in der Bevölkerung hoch. Es gibt viele Forderungen, aber eine große Mehrheit, die sagt: Gewisse Einschränkungen sind schon nötig.

JÖRN RIECKHOFF: Diese Stabilität wissen wir alle als Kulturbetrieb sehr zu schätzen, auch die finanziellen Unterstützungsleistungen, die gerade heute wieder vermeldet wurden. Trotzdem scheint es so, als ob der Kulturbetrieb mit einem ideellen Überschuss betrachtet wird. Beim Flugverkehr denkt man eher etwas großzügiger; ein Corona-Fall im Kulturbetrieb wäre dagegen ein Super-GAU. Vor diesem Hintergrund haben die Salzburger Festspiele, die am letzten Wochenende begonnen haben, auch den Charakter eines Pilotprojekts der internationalen Musikund Theaterszene. Können Sie diese Perspektive nachvollziehen?

PETER TSCHENTSCHER: Ja. Für mich stellt es sich allerdings so dar: Es ist wie mit Geschwistern – ich habe drei Brüder. Jeder fühlt sich immer benachteiligt gegenüber den anderen. Man denkt ja vor allem aus eigener Sicht. Jeder Bereich fühlt sich eigentlich ein Stück weit zu wenig berücksichtigt in dieser ganzen Abwägungslage. Wir hatten Zeiten, in denen z. B. die Kitas und Schulen geschlossen waren. Da haben ganz viele gesagt: Wieso ermöglicht ihr uns gar nichts? Ihr lockert den Sport, ihr lockert den Einzelhandel, man darf wieder Bus und Bahn fahren, aber die Kinder haben überhaupt keine Lobby. Das war aber nicht so. Kitas und Schulen wurden von Virologen zu Anfang als sehr problematische Räume angesehen, und deswegen haben wir das sehr strikt gehandhabt, nicht weil wir die Rechte von Kindern und von Schülerinnen und Schülern gering schätzen, sondern um sie und ihre Familien zu schützen.

So war es auch in anderen Bereichen, sodass sehr viele Forderungen gleichzeitig kamen. Immer mit dem Argument: Was hier geht, müsste doch auch dort gehen. Manchmal hätte man vielleicht auch die Reihenfolge der Maßnahmen ändern können, aber man kann nicht alles gleichzeitig, ohne den Überblick zu verlieren, und darum gibt es keine absolute Gerechtigkeit in so einem Prozess.

JOHN NEUMEIER: Ich sehe mich weniger persönlich betroffen, sondern in der Verantwortung für viele junge Menschen, die mit ihrem Beruf als Tänzer weiterkommen sollen. In anderen Ländern wie Dänemark gibt es seit ein paar Monaten ganz andere Bestimmungen als hier. Seit dem 1. Juli dürfen die Tänzer in Kopenhagen einander anfassen. Natürlich mit Auflagen, mit regelmäßigen Tests. In der Schweiz gibt es auch ein Konzept, mit dem Compagnien schon ein großes Ballett wie "Dornröschen" proben können – ganz normal, wie vor der Pandemie. Als besonders schwierig empfinde ich den Vergleich zu Stuttgart. Man muss bedenken: Ich war Tänzer im Stuttgarter Ballett, als es im Zuge einer New York-Tournee 1969 als „Ballettwunder" international bekannt wurde. Noch immer ist es eine Art "Juwel" von Baden-Württemberg. Dort hat die Landesregierung ein ähnliches Konzept wie in Dänemark für das Stuttgarter Ballett genehmigt.

Ich arbeite und lebe auch in Deutschland, ich bin super-vorsichtig, ich bin nicht skeptisch, ich bin nicht ängstlich, aber ich will das machen dürfen, was wir unter großer Disziplin machen können. Deswegen kam mein Gespräch mit den zuständigen Behörden Anfang dieser Woche zustande. Es scheint jetzt, dass anhand des Stuttgarter Konzepts, das wir gestern umgeschrieben haben für Hamburg, unter bestimmten Umständen auch wir Pas de deux mit zwei Tänzern besetzen können, die keine Lebenspartner sind.

Für mich ist es schwer, rational nachzuvollziehen: Wenn ich Paartanz machen kann und wenn ich Ringen als Sport betreiben darf, warum kann ich kein Pas de deux tanzen lassen? Vor allem in einer Compagnie, die wirklich als Ensemble arbeitet. Diese 60 Tänzer sind immer die gleichen Menschen, und eine Besetzung bestimmt, wer mit wem tanzt. Es ist nicht dem Zufall überlassen. Im Schriftverkehr zu dem erwähnten Gespräch stand in einem Brief der Kulturbehörde: "Das Hamburg Ballett möchte gerne wieder tanzen." Das empfinde ich als Banalisierung von dem, was wir tatsächlich tun wollen. Es ist nicht so, dass wir gerne eine Party veranstalten möchten, sondern es geht um unseren Beruf. Unser Beruf als Tänzer ist in seiner Essenz ein Kontaktberuf. Wenn es möglich ist in Baden-Württemberg, dass ich ein Pas de deux tanzen darf, warum kann ich das nicht in der Hansestadt Hamburg tun?

PETER TSCHENTSCHER: Lag es an der Unfallkasse, oder wo war das Problem?

JOHN NEUMEIER: Es lag am Amt für Arbeitsschutz und der Unfallkasse. Vorgestern fand endlich ein Gespräch mit allen Beteiligten in der Kulturbehörde statt. Unser adaptiertes Konzept liegt jetzt zunächst bei unserem Betriebsrat und unserer Betriebsärztin.

Das Amt für Arbeitsschutz hat sich extrem verständnisvoll gezeigt und in Aussicht gestellt, das Konzept innerhalb von einer Woche zu prüfen und gegebenenfalls zu genehmigen. Wir hoffen sehr darauf, denn wir haben morgen eine Pressekonferenz, bei der wir die etwa achte Variante unseres Herbstprogramms bekanntgeben. Aber wenn auch nur eine der genannten Prüfstellen das Konzept nicht für gut befindet, dann muss ich mir eine neunte Variante ausdenken.

Seit meiner Ernennung zum Ballettdirektor – das ist inzwischen mehr als 50 Jahre her – habe ich immer nach demokratischen Prinzipien gearbeitet. Ich habe niemanden besetzt, weil er oder sie liiert war mit jemand anderem. Und jetzt kann ich nur Lebenspartner als Paare auftreten lassen. Das ist total ungerecht gegenüber vielen Tänzern, die keinen Partner innerhalb des Ensembles haben!

PETER TSCHENTSCHER: Aber geht es jetzt nach den Maßstäben wie in Stuttgart bei uns dann auch?

JOHN NEUMEIER: Im Moment nicht, aber das ist, worauf ich hoffe.

HERMANN REICHENSPURNER: Das Konzept wird im Grundsatz beibehalten und lediglich auf die konkreten Probenbedingungen in Hamburg angepasst. Die Stuttgarter Direktion hat denselben Prozess mit dem dortigen Amt für Arbeitsschutz durchlaufen. Dann hat das Kulturministerium, vor allem aber Ministerpräsident Winfried Kretschmann selber entschieden: Das machen wir jetzt so. Deshalb konnte das Stuttgarter Ballett einen relativ normalen Spielplan vorbereiten. Die fangen jetzt wieder Mitte September mit wirklich großem Ballettrepertoire an.

PETER TSCHENTSCHER: Im Zuschauerbereich ist das Stuttgarter Ballett aber trotz allem limitiert?

JOHN NEUMEIER: Das ist so wie hier. Es geht uns zunächst mehr darum, was auf der Bühne möglich ist. Der Stuttgarter Ballettdirektor hat mir erklärt: Die Landespolitik betrachtet Tänzer als Hochleistungssportler. Hochleistungssport darf man betreiben, also darf man auch tanzen.

PETER TSCHENTSCHER: So haben wir das ja auch mit dem Profi-Fußball gesehen. Da haben wir Regeln gemacht, dass die Mannschaften getestet werden müssen, dass sie ggf. auch in Quarantäne bleiben.

HERMANN REICHENSPURNER: Apropos Publikum. Es war wirklich interessant, dass in Salzburg seit dem letzten Wochenende ein reines Schachbrettmuster umgesetzt wird, das heißt nicht, wie man es hier plant, dass jeweils eine Reihe frei bleiben muss und in den besetzten Reihen zwischen den Menschen je zwei leere Plätze vorzusehen sind. In Salzburg sitzt man zwar versetzt und mit einem Platz dazwischen frei, aber schräg hinter einem sitzt wieder jemand. Sicherlich auch aus wirtschaftlichen Überlegungen können dort erheblich mehr Zuschauer eine Aufführung besuchen als hier: etwas über 60 % der normalen Saalkapazität.

PETER TSCHENTSCHER: Wir haben uns an das Thema herangetastet und geprüft, wo kann man mit Abständen Sitzplätze nutzen, wieviel kommen dabei heraus und vor allem: Wie werden die Zuschauer in den Saal hinein und hinaus geführt. Denn es nützt ja nichts, wenn die Zuschauer während der Vorstellung schön auf Abstand sitzen und beim Rein- und Rausgehen oder in der Pause drängeln alle. Man muss den gesamten Ablauf im Blick haben. Aus diesem Prozess ist die zulässige Zuschauerzahl abgeleitet, und zwar für jedes Haus individuell.

HERMANN REICHENSPURNER: Ganz wichtig ist auch die Maskenpflicht, bis man sitzt. In Salzburg war das Publikum sehr diszipliniert: Die Masken wurden getragen, bis die Vorstellung begann, und am Beginn vom Applaus gleich wieder aufgesetzt. Denn natürlich gibt es immer welche, die "Bravo!" rufen, was für die Aerosol-Belastung ohne Maske ungünstig wäre.

JOHN NEUMEIER: Es war auffällig, dass in Salzburg besonders viel Vorderhauspersonal eingesetzt wurde. Man wurde beim Hineingehen auf die Maskenpflicht hingewiesen – und auch beim Hinsetzen daran erinnert. Unmittelbar vor Beginn der Vorstellung wurde eine Ansage gemacht, dass die Maske bis zum Applausbeginn abgesetzt werden dürfte. Das fand ich sehr gut. Dieser Rahmen hat das Publikum, ohne groß zu stören, dazu gebracht, sich an die Regeln zu halten.

PETER TSCHENTSCHER: Wir werden jetzt auch in Hamburg mit Bühnenaufführungen beginnen. Man wird dann sehen, ob es Infektionsfälle gibt, die man auf Situationen während des Theaterbesuchs zurückführen kann. Wenn es dazu kommt, muss man sagen: Okay, die Vorsichtsmaßnahmen sind weiter nötig. Aus solchen Erfahrungen haben wir ein Gefühl dafür bekommen, was wirklich kritisch ist. Wir haben zum Beispiel monatelang Notbetreuung in Kitas und Schulen gemacht hat und haben keine problematischen Infektionsausbrüche bekommen. Das ist schon ein Indiz dafür, dass es nicht so riskant ist, wie es die Fachleute ursprünglich eingeschätzt haben. Wirklich problematisch sind enge Räume, schlechte Belüftung – und der Einfluss von Alkohol.

Auch wenn im Ballett und der Oper mal Begeisterung aufkommt, sind das letztlich zivilisiertere Räume und nicht mit einer Party vergleichbar. Insofern habe ich schon die Einschätzung, man kann sich dort Lockerungsschritte erlauben. Sobald wir sicher sind, dass es funktioniert, ist auch das Schachbrettmuster denkbar.

JÖRN RIECKHOFF: Ich möchte gerne auf das Haus zurückkommen, in dem wir uns heute befinden. Es beherbergt eine der weltweit bedeutendsten Privatsammlungen für Ballett mit 50.000 Objekten, von denen die Hälfte archivalisch erschlossen ist. John, worin besteht die grundlegende Motivation für den lebenslangen Aufbau Ihrer Sammlung – einer Sammlung, die Sie auch jetzt noch stetig erweitern?

JOHN NEUMEIER: Wenn man einen Drang spürt, wenn man das Gefühl hat: Ich will tanzen; ich weiß nicht, warum; ich weiß nicht, was das ist. Dann will man mehr darüber wissen. Es erfüllt mich mit tiefer Freude zu lernen, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeiten zu entdecken: nicht nur, dass es in verschiedenen Epochen vergleichbare Rivalitäten zwischen Ballettstars gab – wie im 18. Jahrhundert zwischen Marie Camargo und Marie Sallé, im 19. Jahrhundert zwischen Fanny Elßler und Marie Taglioni –, sondern tiefgreifende Verbindungen zwischen Kultur, Tanz und Politik.

Die Pandemie hat mir die Genialität der Ballett-Technik, die sich über mehr als 300 Jahre entwickelt hat, neu ins Bewusstsein gerufen. Stellen Sie sich vor: Das erste Training nach dem Lockdown, sechs oder sieben Tänzer in einem großen Ballettsaal, mit einem Lehrer, voll Demut und "hungrig", diese Kunst noch einmal auszuführen – es war faszinierend!

Zurück zur Motivation des Sammelns: Man will etwas lernen, man hat etwas Schönes, eventuell ein Bild an der Wand. Wenn aber mehr als 20 Bilder an der Wand hängen, versteht man, dass es nicht nur für mich allein sein kann. Dann habe ich die Aufgabe, diese Dinge zu sammeln, damit auch andere Menschen sehen können, was ich gesehen habe, lernen können, was ich gelernt habe, und vielleicht sogar noch tiefer gehen können. Im Lockdown habe ich entdeckt, dass wir in der Sammlung mehr als 600 Original-Briefe der Frau von Vaslaw Nijinsky haben. Ich habe sie alle in dieser Zeit gelesen, und ich überlege, wem bekannt ist, dass diese Briefe hier sind.

Seit mindestens 30 Jahren, als Wolfgang Tarnowski Kultursenator war, versuche ich, für die Sammlung ein Haus zu bekommen, das es ermöglicht, dass ein Publikum reinkommen kann. Wenn Sie Student sind und für eine Doktorarbeit recherchieren, können Sie schon jetzt sich anmelden und kommen. Für die Betreuung der Sammlung habe ich aber nur einen Kurator, Dr. Hans-Michael Schäfer, dazu ein paar Aushilfen von der Universität, die uns bei der Digitalisierung sehr gut unterstützen.

Ich habe die Stiftung gegründet, damit meine Sammlung nicht endet wie der Nachlass von Margot Fonteyn, der größten Ballerina, die England jemals kannte. Als sie starb, wurden alle ihre Sachen – Briefe, Kostüme, Memorabilien – bei Sotheby's versteigert und in alle Welt verstreut. Hier weiß ich wirklich, wo jedes Bild und jedes Buch herkommen. Wir haben gerade heute ein Buch gefunden, das ich erinnere, im Juni 1963 in New York gekauft zu haben – am gleichen Tag, an dem ich nach Europa flog. Gestern habe ich es gesucht und vermisst – und heute habe ich es zwischen den anderen 15.000 Büchern gefunden. Ich bin so erleichtert! Das hat alles eine Bedeutung für mich, und es müsste und kann auch eine Bedeutung für ganz viele Menschen bekommen.

Deswegen bin ich froh, dass jetzt Bewegung in die Sache gekommen ist. Wir hoffen, dass die Sammlung in einem Institut in der HafenCity untergebracht wird, wo eventuell – das ist aber noch geheim! – auch das Bundesjugendballett sein könnte. Die Kombination von Wissenschaft über Tanz und die Zukunft des Tanzes, repräsentiert durch diese jungen Menschen, wäre wirklich einmalig in der Welt!

HERMANN REICHENSPURNER: Mich fasziniert vor allem das Gebiet der Tanzwissenschaft, denn es ist so unglaublich viel Material in der Sammlung vorhanden. Schon jetzt gibt es Doktorarbeiten und Studien, die darauf aufbauen. Deshalb kam die Idee auf – und wir hatten bereits sehr gute Gespräche, auch mit Dieter Lenzen –, eine Professur für Tanzwissenschaften einzurichten. Vielleicht sogar eine "John Neumeier-Professur", die man sehr gut in diesem Institut verorten könnte. Dazu haben wir jetzt die Details ausgearbeitet und einen Brief an Katharina Fegebank geschrieben – ich habe auch mit ihr persönlich gesprochen: inwieweit es möglich ist, eine Professur in Kooperation mit der Universität, aber an diesem Institut in der HafenCity anzudocken. Dieses Institut würde mehrere Komponenten effektiv zusammenführen: die Sammlung, den Erhalt von Johns Lebenswerk, die künstlerische Praxis durch das Bundesjugendballett und eine wissenschaftliche Komponente. Das wäre natürlich ideal.

PETER TSCHENTSCHER: Mir fällt dazu ein Beispiel aus einem anderen Bereich ein. Ganz ähnlich wie hier ist es mit der naturkundlichen Sammlung der Universität gedacht: Die Bewahrung der Sammlung, ihre wissenschaftliche Nutzung und Aufarbeitung sowie die Präsentation für die Öffentlichkeit, also der Zugang für die Fachwelt und die Bürgerinnen und Bürger. Das ist ein überzeugendes Konzept.

HERMANN REICHENSPURNER: Wir sind auch in Gesprächen mit der HafenCity. Kurz vor der Sommerpause waren wir noch einmal dort, wegen der so genannten Anhandgabe mit dem Bauträger. Was man wirklich erwähnen muss: Neben der Kulturbehörde, die dieses Projekt begleitet, ist Herr Bruns-Berentelg von der HafenCity Hamburg GmbH an dem Projekt sehr interessiert, hat die Sammlung hier gesehen und ist sehr enthusiastisch über das Projekt. Nach diesen vielen Gesprächen sind wir optimistisch. Wir waren natürlich sehr glücklich, dass das Institut sogar im Koalitionsvertrag aufgeführt wurde und hoffen, dass es jetzt den richtigen Weg geht.

PETER TSCHENTSCHER: Ja – das hoffe ich auch. Es ist aber immer so: Es gibt viele Überlegungen gleichzeitig , die eine Rolle spielen. Da ist es wichtig, dass man alles zu Ende denkt. Am Ende zahlt es sich aus, wenn man ein Projekt gründlich plant und zu Ende denkt.

JÖRN RIECKHOFF: Wir haben hier in Hamburg eine besondere Konstellation, weil Sie, John, seit 1973 über Jahrzehnte erfolgreich aktiv sind und auch innerhalb der Stadt ein interessiertes und auch zahlenmäßig starkes Ballettpublikum aufgebaut haben. Die Ballett-Tage haben zusätzlich internationale Strahlkraft. Das Institut würde sowohl in der Fachwelt, aber auch in der Ballettszene und in Fankreisen große Aufmerksamkeit auf sich ziehen: deutschlandweit, international, aber auch hier in der Metropolregion Hamburg.

Das Institut hätte ein besonderes Profil, indem es viel mehr leisten würde als eine Sammlung "aufzubewahren". Es wäre von außen zugänglich, es könnte ein Rahmenprogramm anbieten, um das Ballettprogramm in der Staatsoper zu spiegeln und zu vertiefen. Diese Form, ein über Jahrzehnte gewachsenes künstlerisches Vermächtnis lebendig zu halten und mit dem Bundesjugendballett den kreativen Schritt in die Zukunft zu wagen, wäre tatsächlich einzigartig.

JOHN NEUMEIER: Die Sammlung ist nicht nur eine Abstraktion oder eine Kunstsammlung von jemandem, der ein Bild kauft, weil er weiß, dass es später mehr wert sein wird. Es hat sehr, sehr eng mit meiner Arbeit zu tun. Die Grenzen zwischen der Sammlung, meinem Privatleben und meiner Arbeit sind fließend. Es ist eine Sammlung nicht von einem Liebhaber, Fan oder Sponsor des Balletts, sondern von jemandem, der in dieser Kunstform über Jahrzehnte erfolgreich gearbeitet und sie als Inspiration für sein Werk aufgebaut hat. Das Hamburg Ballett ist wirklich bekannt in der Welt durch Hunderte von Tourneen, die wir in den letzten knapp 50 Jahren gemacht haben. Wenn man sagt, ich komme nach Hamburg, um eine Vorstellung oder die Ballett-Tage zu sehen, wäre es ideal, hier auch die Möglichkeit anzubieten, so eine Sammlung zu besuchen, so eine Bibliothek zu sehen. Das wäre, denke ich, eine Bereicherung für unsere Stadt.

Nachdem die Zukunft seiner Stiftung so unerwartet detailliert zur Sprache gekommen ist, lässt John Neumeier es sich nicht nehmen, Peter Tschentscher persönlich durch das Haus und seine Sammlung zu führen. Dabei zeigt sich, dass jedes historische Dokument – egal ob materiell wertvoll oder nicht – für John Neumeier einen Mosaikstein in seinem lebendigen Zugang zur Welt des Balletts bildet. Peter Tschentscher taucht gerne mit ein in diese faszinierende Welt und lässt sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als – auf dem Weg zu John Neumeiers Arbeitszimmer und dem Nijinsky-Salon – klar wird, dass man sich längst außerhalb des abgesprochenen Zeitplans bewegt. Zum Abschluss überreicht John Neumeier das aktuelle Hamburg Ballett-Jahrbuch und seine Werkdokumentation "In Bewegung", ergänzt um eine persönliche Widmung und die herzliche Einladung an Peter Tschentscher, mit seiner Frau die Uraufführung von "Ghost Light" zu besuchen.

Schriftfassung: Jörn Rieckhoff
 

top
powered by webEdition CMS