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Ballett von John Neumeier
Illusionen - wie Schwanensee
Für mich als einen Choreografen, der nicht unbedingt revolutionär sein will, ist es unsinnig, das, was bisher geschaffen wurde und sich erhalten hat, zu verneinen. Andererseits erscheint es mir ebenso sinnlos, es manieristisch nachzuahmen, ohne den Geist der Choreografie und der sie prägenden Tanzkunst zu erfassen. Um das zu bewahren, müssen wir, glaube ich, in einer modernen Compagnie wie der unseren nach einer Alternative suchen, die den historischen Hintergrund und den zeitlichen Abstand in die Interpretation mit einbezieht.
Eine "Schwanensee"-Konzeption für unsere Compagnie kann sich nicht auf die naive Nacherzählung eines Märchens mit den uns fremden Mitteln des vorigen Jahrhunderts beschränken. Sie findet ihren Sinn nur, wenn sie das überzeitliche Thema "unverwirklichbare Liebe" und seine Interpretation, die es durch das 19. Jahrhundert erfahren hat, mit heutigen Mitteln darstellt. Anzustreben ist dabei die ideale Vereinigung von möglichst originalgetreuer Wiedergabe der choreografisch oder thematisch wichtigen Teile und historisch distanzierter Sicht. Aus dieser Perspektive relativieren sich bestimmte Traditionen, ohne dass am zeitlos gültigen Kern des Werks gezweifelt würde.
Aufgrund unserer klassischen Erziehung fühlen wir uns den rein tänzerisch durchkomponierten Passagen, vor allem dem II. Akt und dem Grand Pas de deux des III. Aktes verpflichtet, in denen Tanztechnik und choreografische Aussage identisch anmuten. Die pantomimisch-erzählenden Partien dagegen erscheinen an ihre Entstehungszeit gebunden, und ich habe sie deswegen bewusst verwendet, um diese Zeit zu charakterisieren. Bei der Suche nach der Essenz des Balletts ist natürlich die Musik von wesentlicher Bedeutung. Als erster Komponist seines Jahrhunderts hat sich Tschaikowsky nicht damit begnügt, eine effektvoll begleitende Untermalung des Szenariums zu schreiben. Grundlegende Ideen und Motive sind musikalisch eigenständig neu formuliert: Die Suche nach wahrem Glück und Liebe als Ausweg aus verzweifeltem inneren Kampf. Und dieser Inhalt scheint mir verbindlicher als einzelne Details der Balletthandlung.
Der Schritt vom Märchenmythos des Librettos zu einem anderen "Schwanenmythos" desselben Jahrhunderts, in dem sich die psychologische Struktur stärker offenbart als im ursprünglichen Ballettszenarium, liegt nahe, zumal von beiden Mythen bis heute die gleiche Zauberwirkung und eine ähnliche "magische Aura" ausgehen. Überraschender als die offensichtlichen Parallelen zu Ludwig II., dem bayrischen Märchenkönig, der sich in Neuschwanstein ein Schwanenritterschloss und eine mystische Scheinwelt erbaute, sind die inneren Analogien im Schicksal und in der psychischen Situation Tschaikowskys, Ludwigs II. und Siegfrieds, des "Schwanensee"-Prinzen - eine unerwartete Verwandtschaft.
John Neumeier
Musik: Peter I. Tschaikowsky
Choreografie und Inszenierung: John Neumeier
Choreografie der "Zweite Erinnerung" nach Lew Ivanow, rekonstruiert unter Beratung von Alexandra Danilova
Choreografie des Grand Pas de deux in der "Dritte Erinnerung" nach Marius Petipa und Lew Ivanow
Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose
2 Stunden 50 Minuten | 1 Pause
1. Teil: 80 Minuten, 2. Teil: 55 Minuten
URAUFFÜHRUNG:
Hamburg Ballett, Hamburg, 2. Mai 1976
ORIGINALBESETZUNG:
Der König: Max Midinet
Prinzessin Natalia: Persephone Samaropoulo
Der Mann im Schatten: Fred Howald
Odette: Magali Messac
Prinzessin Claire: Marianne Kruuse
Graf Alexander: Truman Finney
Prinz Siegfried: Eugen Ivanics
Die Königinmutter: Beatrice Cordua
Prinz Leopold: Victor Hughes
GASTSPIELE:
1978 München 2000 Paris 1994 Nagoya, Osaka, Tokio, Yokohama
IM REPERTOIRE:
Bayerisches Staatsballett
Dresden SemperOper Ballet
Das Programmheft ist in unserem Onlineshop erhältlich
Die Handlung
Die Wirklichkeit
Ein König wird für wahnsinnig erklärt, während eines Maskenballs festgenommen und eingesperrt.
Der Rohbau seines eigenen Schlosses wird ihm zum Gefängnis. Allein, spürt er die flüchtige Gegenwart eines anderen: Der "Mann im Schatten". Bevor er den Trug fassen kann, ist er verschwunden.
Traumbefangen sinkt er über das Modell eines seiner geplanten Prachtbauten.
Die erste Erinnerung: Richtfest
Handwerker und bäuerliche Bevölkerung feiern Richtfest. Bei einem der königlichen Schlossprojekte ist der Dachstuhl fertiggestellt. Auch der König ist als Bauherr anwesend und nimmt mit seinem Vertrauten, Graf Alexander, an der anschließenden Fröhlichkeit und den ausgelassenen bäurischen Kraftspielen teil.
Weitere Mitglieder des Hofes treffen ein, unter ihnen die Königinmutter, begleitet von Prinz Leopold, die Prinzessinnen Natalia, des Königs Verlobte, und Claire, Graf Alexanders Braut. Für sie ist das Richtfest willkommener Anlass für eine sommerliche Landpartie, und sie vergnügen sich bei Picknick und Tanz. Man tanzt Quadrille. Die Festlichkeit gipfelt in einer Polonaise, angeführt von der Königinmutter und ihrem Begleiter.
Nur der König entzieht sich dem gesellschaftlichen Treiben. Gedankenversunken bleibt er zurück. So findet ihn Prinzessin Natalia, als sie allein zurückkehrt. Auch ihr verweigert sich der König. Der "Mann im Schatten" ist wieder anwesend.
Die Wirklichkeit
In seinem Gefängnis stolpert der König über einen der herumstehenden, verhangenen Gegenstände. Es ist ein Bühnenbildmodell für das Ballett "Schwanensee".
Die zweite Erinnerung: Separatvorstellung "Schwanensee"
Für sich allein lässt der König "Schwanensee" tanzen. Das Ballett erzählt von der Prinzessin Odette, die durch den bösen Zauberer Rotbart in einen Schwan verwandelt wurde und nur um Mitternacht für eine kurze Zeit ihre ursprüngliche Mädchengestalt annehmen darf; es berichtet vom Prinzen Siegfried, der auf der Schwanenjagd die nächtliche Rückverwandlung beobachtet und sich in die Schwanenprinzessin verliebt. Der König identifiziert sich ganz mit der Illusionswelt der Bühne und übernimmt selbst den Part des Prinzen Siegfried.
Heimlich hat sich Prinzessin Natalia in den Saal geschlichen, um dem König einmal ungestört nahe zu sein. Als sie ihn tanzen sieht und seine intensive Beziehung zur Kunstfigur der Schwanenprinzessin bemerkt, verlässt sie betroffen wieder den Raum.
Am Ende des tragischen Balletts verwandelt sich in den Augen des Königs Rotbart plötzlich in den "Mann im Schatten".
Die Wirklichkeit
Laute Marschmusik schreckt den erschöpften König in seiner Zelle. In seiner Hysterie von Zwangsvorstellungen gepeinigt, glaubt er, es ziehe der Siegeszug seines vermeintlichen Rivalen Leopold, des neuen Prinzregenten, vorbei, und bricht zusammen.
Dabei stößt er an ein Gemälde, das ihn bei seiner Inthronisation darstellt. Durch die unvermittelte Konfrontation mit der eigenen Krönung verliert er sich wieder in die Vergangenheit.
Die dritte Erinnerung: Maskenball
Der König erinnert sich an den großen Ball der Nationen, mit dem diese Nacht ihren Anfang genommen hatte; er war als Prinz Siegfried erschienen.
Clowns unterhalten die Gäste, präsentieren besonders gelungene Kostüme und arrangieren als Zeremonienmeister die verschiedenen Touren des Cotillon. Gäste in Nationaltrachten stellen sich mit den entsprechenden Volkstänzen vor. Im ungarischen Gewand eröffnet die Königinmutter den Reigen mit einem Salon-Czardas. Als beim Partnertausch im Wechselwalzer auch der König und Prinzessin Natalia aufeinandertreffen, lässt sie überraschend den Domino von den Schultern gleiten, in den sie bisher gehüllt war, und steht in einem der Schwanenprinzessin nachempfundenen Kostüm da. Dem König gefällt der Einfall. Natalias suggestives Spiel versetzt ihn in jene Traumwelt, und zum ersten Mal kommt Verständnis zwischen beiden auf. Unvermutet tauchen die Clowns zwischen den Tanzenden auf. Sie ziehen jedem die Larve vom Gesicht. Es ist Mitternacht, Faschingsende, Demaskierung. Unbemerkt von den anderen nähert sich ein schwarzer Clown dem König; langsam nimmt er sich die Maske ab und wird für den König zum "Mann im Schatten". Die Wiederbegegnung reißt ihn aus der Illusion. Die Scheinbeziehung zu Natalia-Odette zerbricht. Der König gebärdet sich wie wahnsinnig, lässt sich so weit gehen, die Königinmutter zu brüskieren. Staatsbeamte nehmen ihn in Gewahrsam.
Die Wirklichkeit
Der König schläft. Wie aus einem Alptraum erwacht er, als es an der Tür klopft. Prinzessin Natalia, noch im Karnevalskostüm, wird zu einer kurzen Visite hereingelassen. Er schickt sie weg. Sie geht endgültig.
Phantasien, Wahnvorstellungen von Schwanensee tauchen vor seinen Augen auf und vermischen sich mit dem realen Bild. Deutlich empfindet er die Gegenwart des "Mannes im Schatten" und wendet sich ihm zu. Er nimmt sein Schicksal an.