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Ballett von John Neumeier

The Age of Anxiety

The Age of Anxiety
Aus dem Versgedicht von W. H. Auden

Prolog
Wenn der Gang der Geschichte unterbrochen ist
und Armeen die eintretende Öde,
die sie nie wieder gutmachen können,
mit ihren großartigen Reden organisieren,
wenn Notwendigkeit sich mit Grauen
und Freiheit sich mit Langeweile verbinden,
dann hat das Bargeschäft seine gute Zeit.


Musik: Leonard Bernstein – 2. Sinfonie für Klavier und Orchester und prolog: "Ain't got no tears left" (Uraufführung)
Choreografie, Bühnenbild und Kostüme: John Neumeier

URAUFFÜHRUNG:
Hamburg Ballett, Hamburg 22. Dezember 1979

ORIGINALBESETZUNG:
Quant: François Klaus
Emble: Kevin Haigen
Rosetta: Lynne Charles
Malin: Max Midinet
und
Ivan Liska
Diana Blair
Jean-Christophe Maillot

IM REPERTOIRE:
Ballet West

[MEHR]
"Songfest" und "Das Zeitalter der Angst"
John Neumeier über seine Bernstein-Ballette

Genau wie Bernstein von seinem spontanen Inspiriertsein beim Lesen von W. H. Audens "The Age of Anxiety" berichtet, ging es mir beim Hören seiner Vertonung dieses Gedichts: als ich diese zweite Sinfonie zum erstenmal hörte, fesselte sie mich sogleich als ein unbedingt zu choreografierendes Werk. Später - bei Bernsteins Besuch in Hamburg, um die "West Side Story" zu sehen - kam die Idee, seinen neu entstandenen Liederzyklus "Songfest" mit "Age" für einen Bernstein-Ballettabend zu kombinieren. Diese zwei Stücke sind meiner Ansicht nach perfekte Pendants - ein amerikanischer Komponist befasst sich in zwei großen Werken mit amerikanischen Dichtungen, und all dies nun choreografisch realisiert von einem Amerikaner.
Choreografen haben sich über Jahrhunderte immer wieder von Gedichten inspirieren lassen. Dabei geht es bei den gelungensten dieser Ballette nicht darum, das Gedicht in seiner Gesamtheit "nach-zu-choreografieren", zu illustrieren, jede einzelne Idee in Bewegung wiederzugeben, sondern darum, sich von der starken Kraft der poetischen Vision oder von einzelnen Wortbildern inspirieren zu lassen. Wie Poesie im Wort, so spricht Tanz im Menschen Metaphern! Gedichte sind ähnlich wie Choreografie: die besten sagen das aus, was man nicht in Prosa oder Schauspiel ausdrücken kann. Darum wäre es eigentlich überflüssig, für diesen Abend eine Inhaltsangabe zu schreiben, denn das Wesentliche an beiden Balletten sowie an den Gedichten und Musikstücken ist sicherlich nicht ihre nacherzählbare Handlung.
Trotzdem ein paar Stichworte zur Gesamtform des Ballettabends. Jedes der beiden Ballette hat einen bestimmten, wenn auch eher symbolisch gemeinten Spielort sowie eine Tageszeit, in der es abläuft: "Songfest" findet im Park statt, im Freien, unter einem Baum, der Amerika bedeuten könnte; es beginnt am frühen Morgen und endet nachts. "The Age of Anxiety" spielt in einer Bar, beginnt nachts und endet am nächsten Morgen - im selben Park.
"Songfest" versucht, jedem der Gedichte ein formell choreografisches Bild zu geben, das nicht nur das Problem oder die Situation des spezifischen Gedichts berücksichtigen, sondern auch die besondere Welt eines jeden Dichters in Tanz umsetzen soll. Eine Essenz sozusagen - natürlich subjektiv gesehen. Die choreografische Sprache ist amerikanisch, die Beziehungen und Grundprobleme sind allgemein menschlich.
"The Age of Anxiety" dagegen hat einen verbindenden Faden. Durch meine Arbeit an Gedicht und Musik ist folgender Aktionsablauf entstanden:

Prolog
Vier Menschen treffen sich in einer Bar und fühlen sich in ihrer Angst voneinander angezogen.

Die Sieben Lebensalter
Sie erinnern sich ihrer selbst als Kinder - traurig, dass die Reinheit in ihnen gestorben ist.

Die Sieben Stationen
Zusammen machen sie eine Traumreise durch die Stufen ihres Unterbewusstseins, um eine Lösung zu finden.

Der Grabgesang
Enttäuscht sehnen sie sich nach dem "riesigen Vater", der alles gutmachen kann.

Das Maskenspiel
Wieder enttäuscht, versuchen sie mit Gewalt im Tanz, ihre Trauer und Angst zu vergessen.

Epilog
Dieser Rausch bietet ihnen am Ende auch keine Lösung. Allein gehen sie auseinander; ihr Glaube - vielleicht nur ein Traum von Hoffnung?

Für den Prolog in der Bar wollte ich eine andere, eine "realistische" Musik verwenden - als Kontrast zur Sinfonie, deren Anfang den Weg in die innere Existenz der vier Hauptfiguren darstellen soll. Auf meine Frage nach einem passenden populären Stück für diesen Zweck fiel Leonard Bernstein sein Lied "Ain't got no tears left" aus dem im Jahre 1944 entstandenen Musical "On the Town" ein, welches schon vor der Premiere wieder gestrichen worden war. Das Hauptthema dieses weggeworfenen Songs benutzte Bernstein dann später als Motiv im 4. Satz seiner 2. Sinfonie! Die Existenz dieses nie veröffentlichten Liedes schien mir wirklich schicksalhaft, denn diese musikalische thematische Verbindung zwischen dem Maskenspiel und der Bar des Prologs war genau das, was die verschiedenen Ebenen des Balletts klarmachen könnte. Der Song wurde im Stil von Glenn Miller orchestriert, um genau die Atmosphäre der vierziger Jahre im New York von Audens Gedicht wiederzugeben. Aber weder mein Ballett noch Bernsteins Vertonung dieses langen, symbolreichen Gedichts noch das nach 13 amerikanischen Gedichten gestaltete "Songfest" sind eine direkte Wiedergabe des Inhalts oder eine Handlung der Texte. Die Ballette zeigen Bewegungsbilder, welche aus den von mir empfundenen Gefühlen beim Lesen bzw. Studieren dieser Gedichte entstanden sind. Auch dieses "Gefühl" muss dann noch einmal übersetzt werden durch Bernsteins Musik. Seine Musik ist eigentlich in der Choreografie mein direkter Partner. Sie begleitet den Moment der Kreation, ist aber gleichzeitig der führende inspirierende Motor. In dem fertigen Ballett müssen Wort und Musik zu optischen, menschlichen Bildern werden. Wichtig ist, dass die daraus entstehenden Bewegungen und Beziehungen in meiner Choreografie auch ihr eigenes Leben bekommen - unabhängig vom Gedicht oder der Musik.

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