Reine Musik und reine Choreografie
Gustav Mahler hat über seine Fünfte Sinfonie gesagt, dass sie kein Programm habe. Genau das gleiche sage ich über meine Ballette. Sie haben keinen nacherzählbaren Inhalt. Mahler wollte reine Musik schreiben, ich will reinen Tanz choreografieren. Aber gleichzeitig beschäftigt mich ein Gedanke: Ist ein Satz, den Mahler "Trauermarsch" überschreibt, ein Takt, dem er die Bezeichnung "klagend" gibt, denn wirklich ohne Programm? Und gibt es, wenn man die ersten vier Sinfonien Mahlers und die Fünfte miteinander vergleicht, einen hörbaren Unterschied zwischen einem Satz mit Programm und einem Satz ohne Programm? Ich glaube nicht, dass der zweite Satz der Fünften wirklich kein Programm hat, Ich denke viel eher, dass Mahler, um nicht missverstanden zu werden, vorsichtiger geworden ist. Zu Natalie Bauer-Lechner sagte Gustav Mahler einmal: "Die einzelnen Sätze der Fünften haben keine Titel. Ich könnte ihnen die schönsten Titel geben, aber ich tue es nicht." Genauso denke ich auch. Ich könnte sicher auch Titel für meine Ballette angeben, aber ich will es nicht.
Zwei Gedanken haben mich bewogen, diese Ballette zu choreografieren. Ursprünglich war für den Premieren-Termin die deutsche Erstaufführung von "Amleth" geplant. Aber als ich im Frühjahr von einer Japan-Reise nach Hamburg zurückkam und durch das fast fertige Ballettzentrum ging, war ich von der Schönheit und Klarheit dieser Räume und ihren Lichtverhältnissen restlos begeistert. Dieses Bild hat sich vervollkommnet, als die Tänzer begannen, dort zu arbeiten. Ich dachte, dass die Räume es verdient haben, durch eine Kreation eingeweiht zu werden. Und ich wollte ein Ballett für meine Compagnie machen, für die Tänzer, die in diesen Räumen arbeiten. Diese Ballette sollen den jetzigen Zustand der Compagnie dokumentieren, ihre Vielschichtigkeit, ihre Einheit. Ich habe versucht, innerhalb der Struktur dieser Ballette ein Vokabular zu finden, das mit dem täglichen klassischen Training der Tänzer in Übereinstimmung ist, die Musikalität Mahlers widerspiegelt und die für mich richtige Bewegungsdynamik hat. In dieser Balance bewegen sich die Ballette.
Als Musik wählte ich die Fünfte Sinfonie von Gustav Mahler, die mir für diesen Zweck genau richtig schien auf Grund ihrer Vielschichtigkeit und vor allem, weil ich sie für eine sehr tänzerische Musik halte, und die Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn". Lieder und Sinfonie bilden nicht zwei Teile eines Stücks, es sind eigenständige Ballette, aber es besteht eine gewisse Verwandtschaft zwischen ihnen; auch Mahler zitiert einige Fragmente der Lieder in der Fünften Sinfonie. Für mich stellen die Wunderhorn-Lieder eine Vergangenheit zur Gegenwart der Fünften Sinfonie dar.
Mahler schrieb Musik zu den Wunderhorn-Texten, nicht um diese Texte zu illustrieren, zu vertonen, sondern um die Eindrücke, die diese Texte in ihm hervorriefen, in seiner Sprache, der Musik, auszudrücken. Er wollte den tieferen Gehalt, den er hinter diesen Texten spürte um seine eigene Dimension bereichern. So verstehe ich auch meine Ballette. Sie sind keine einfache Umsetzung der Texte oder auch der Musik in Tanz. Ich will keine Geschichte erzählen, sondern in meiner Sprache, dem Ballett, weiterentwickeln, was ich in dieser Musik empfinde.
John Neumeier
Musik: Gustav Mahler
Choreografie und Kostüme: John Neumeier
URAUFFÜHRUNG:
Hamburg Ballett, Hamburg, 10. Dezember 1989
Der vierte Satz, "Adagietto", wurde am 8. Juli 1975 in New York State Theater für Natalia Makarova und Erik Bruhn unter den Titel "Epilogue" kreiert
ORIGINALBESETZUNG:
Stefanie Arndt
Bettina Beckmann
Jennifer Goubé
Anna Grabka
Gigi Hyatt
Chantal Lefèvre
Anders Hellström
Jean Laban
Ivan Liska
Janusz Mazon
Stephen Pier
IM REPERTOIRE:
Königlich Dänisches Ballett