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Ballett von John Neumeier
Requiem
... am Abend deines Lebens wird man dich
an deiner Liebe prüfen.
Johannes vom Kreuz
Musik: Wolfgang Amadeus Mozart – Requiem" KV 626 und Gesänge im Gregorianischen Choral
Choreografie, Bühnenbild und Kostüme: John Neumeier
1 Stunde 45 Minuten | keine Pause
URAUFFÜHRUNG:
Hamburg Ballett, Felsenreitschule, Salzburg, 26. Juli 1991
PREMIERE IN HAMBURG:
Hamburg Ballett, 12. Januar 1992
ORIGINALBESETZUNG:
Stefanie Arndt
Bettina Beckmann
Emanuelle Broncin
Gilma Bustillo
Laura Cazzaniga
Anna Grabka
Heather Jurgensen
Ralf Dörnen
Denis Feuillette
Gamal Gouda
Anders Hellström
Jean Laban
Radik Zaripov
Janusz Mazon
Jean-Jacques Defago
Gildas Diquéro
Tomi Paasonen
William Parton
Michele Politi
Jan de Schinkel
Karin Brennan
Es wäre falsch, den Sinn meiner Choreografie in irgendeinem vordergründigen Bezug zur Liturgie oder zur Tradition der Totenmesse zu sehen ... Meine Choreografie beginnt mit einer Situation, die in einem Wartesaal spielen könnte. Die Tänzer kommen einzeln in den Raum, teilweise mit Gepäck, mit Requisiten, mit Kleidungsstücken, mit Dingen, die sie sich selbst ausgewählt haben, als ich sie bat, irgend etwas zur ersten Probe mitzubringen. Ein solcher Beginn hat viel mit dem Alltag der Tänzer zu tun. Wir sehen eine Situation, in der wir uns alle wiedererkennen können: Menschen, die für sich sind, vereinzelt, isoliert. Das ist meine Ausgangssituation. Verlassene Menschen betreten einen Bühnenraum. Dort steht eine lange Bankreihe. Darauf liegt ein Mensch. Man weiß nicht, schläft er, langweilt er sich, ist er betrunken, ist er tot? In Beziehung zu dieser menschlichen Kreatur finden die Tänzer ihren 'Platz', ihren Bezugspunkt. Während dieses Vorgangs hört man einen gregorianischen Choral. Ich habe dabei das Gefühl, dass die gregorianische Musik und die sie darstellenden Tänzer allgegenwärtig sind, nur eben von den anderen Tänzern noch nicht gehört und gesehen werden. Für die schwarz gekleideten Tänzer des "Requiems" - die Verlassenen - geht es im Verlauf dieses Balletts darum, sich die für sie entscheidende Gegenwärtigkeit der anderen, der "gregorianischen" Gruppe bewusst zu machen, sich auf sie einzulassen oder gegen sie anzugehen.
Ich habe im Verlauf der Arbeit eine erstaunliche Erfahrung gemacht. Unbewusst verhalte ich mich anscheinend so wie Mozart in seiner "Requiem"-Komposition. Eine Tänzerin oder ein Tänzer können von einem Augenblick zum anderen solistisch hervortreten und bleiben dennoch unverändert ein Glied der Gruppe. Oft ereignen sich solche Soli abrupt und schnell, so dass man Momente später nicht mehr weiß, war es ein Solist oder nicht? In gewisser Weise bekommt das Mozartsche "Requiem" ab dem "Tuba mirum" (dem Beginn der Sequenz) einen stärker ich-bezogenen Charakter, und analog dazu schälen sich - eher uneinheitlich und ohne feste Konturen - kleinere Gruppen oder Gruppenbildungen heraus. Man sollte - weder als Choreograf noch als Tänzer oder Solist - an irgendeiner Stelle dieses "Requiems" das Gefühl haben, souverän über der Sache zu stehen, sondern die Auseinandersetzung stets als eine persönliche Annäherung an den Text und die Musik begreifen. Es entsteht sicherlich kein ästhetisch 'schönes' Stück, eher eine Folge von Skizzen, die im Ansatz vielleicht mit Phasen aus der "Matthäus-Passion" zu vergleichen sind. Ein Beispiel: In meiner Choreografie zu "Magnificat" betreten Tänzer den Raum, nehmen ihre Position ein und wissen von da an in jeder Phase des Abends, wo sie zu stehen oder zu sitzen haben, wie sie sich bewegen, wohin sie schauen sollen. Im "Requiem" dagegen bricht an bestimmten Stellen die Musik einfach ab. Der Zusammenhang von Text, Musik und Bewegung geht für Augenblicke völlig verloren. Die Brüchigkeit, das Unfertige des "Requiems" von Mozart spiegelt für mich die Zerrissenheit wider, die ich empfinde, wenn ich mich mit dem Tod beschäftige und dabei widersprüchliche Gedanken nicht zu Ende denken kann. Der gebrochene Charakter des unvollendeten "Requiems", dessen von Mozart vollendete Teile bereits einen solch fragmentarischen Wesenszug haben, gibt mir als Choreograf die Möglichkeit, den gregorianischen Choral nicht nur als Kontrast, sondern auch als Vervollständigung des "Requiems" einzusetzen. Plötzlich wird das Thema "Tod" aus einer Widersprüchlichkeit heraus für mich ganz konkret und fassbar. Im leeren, neutralen Raum tanzen zwei Gruppen "ihr" Stück. Diese beiden Stücke setzen sich wie zufällig mit dem Thema "Tod" auseinander. Für die eine Gruppe wird dieses Thema im Gebet, in ruhigen, archaischen Gesten fassbar. In der anderen Gruppe dominieren Angst, Verzweiflung, Ungewissheit. Die Konfrontation mit dem Thema 'Tod' ist unausweichlich. Ich habe mit den Tänzern über meine Empfindungen am Beginn des Balletts gesprochen. Wenn sie den Raum betreten, sind sie für mich Verlassene. Jeder von ihnen denkt etwas anderes, einer vielleicht an sein Leben, ein anderer an den Tod oder an das Erlebnis des Todes, wieder ein anderer an Gott. In einem Augenblick, als Mozarts "Requiem" ertönt, denken für mich alle schlagartig dasselbe: Das ist der Tod, sein Tod, mein Tod.
J. N. (1991)