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Von John Neumeier
Warum ich nach so langer Zeit auf ein "Märchenballett" wie "Dornröschen" zurückkomme?
Mich fasziniert der Titel mit seiner suggestiven Verknüpfung von Rose und Dornen – auf Deutsch, aber auch auf Dänisch, Niederländisch und in vielen anderen Sprachen. Wie in der berühmte Händel-Arie "Lascia la spina" (Meide die Dornen) assoziiert er Genuss mit Gefahr, Schönheit mit Schmerz. Diesen inneren Gegensatz möchte ich in meiner Neufassung sichtbar machen und habe daher die Böse Fee (Carabosse) neu benannt als Der Dorn, die Gute Fee (Fliederfee) als Die Rose, wie in "Der Kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry.
"Dornröschen" nimmt eine besondere Stellung innerhalb des Ballett-Repertoires ein, als Blüte und Höhepunkt des klassisch-akademischen Tanzes in St. Petersburg in der Choreografie von Marius Petipa und mit Musik von Peter Iljitsch Tschaikowsky. Eine Compagnie wie das Hamburg Ballett muss dieses Meisterwerk im Repertoire haben! Nach reiflicher Überlegung, ob ich ganz neu beginnen und das bewährte Konzept mit der zugehörigen Ausstattung einfach "wegschmeißen" sollte, habe ich eine inhaltlich fundierte Entscheidung getroffen, die auch ökologisch und ökonomisch richtungsweisend ist.
Bei der Eröffnung unserer neuen Opernwerkstätten 2018 war ich beeindruckt von der Schönheit und dem guten Zustand eines Hochzeitskostüms aus "Dornröschen". Mir kam der Gedanke: "Warum soll man diese Kostüme nicht weiternutzen? Sie sind wirklich wunderschön, so aufwendig genäht aus einem wertvollen Stoff!" Auch die Prospekte von Jürgen Rose waren derart kunsthandwerklich gemalt, dass es eine Schande wäre, sie wegzuwerfen – nur, damit es etwas Neues gäbe.
Für "Dornröschen" sehe ich es nach wie vor als richtigen Weg, eine genau recherchierte Fassung der traditionellen Choreografie in einer modernen Dramaturgie zu zeigen. Das Konzept, das ich 1978 entwickelte, scheint mir weiterhin sinnvoll. Damals waren fast 100 Jahre seit der Premiere von Petipas Originalballett vergangen. Ich ließ einen "heutigen" Prinzen auf eine Prinzessin treffen, die sich nach einem 100-jährigen Schlaf weiterhin in der choreografischen Sprache Petipas ausdrückte. Inzwischen bin ich 40 Jahre älter. Es fühlt sich daher genau richtig an, dieses Konzept nun noch konsequenter auszuarbeiten und dabei die neu gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse und wohl auch Mut einzubringen. Obwohl die ursprüngliche Premiere inzwischen 131 Jahre zurückliegt, bietet der Kontrast der Zeitebenen weiterhin eine gültige Sicht auf diesen Klassiker.
Es ist unmöglich, eine "Originalfassung" eines Balletts aus der klassischen Epoche auf die Bühne zu bringen. Sowohl die Fassungen, die auf Nikolai Sergejews Produktion von 1939 für das Vic-Wells Ballet in London zurückgehen und auf seinen Dokumenten in der Stepanow-Notation basieren, als auch die Rekonstruktionen von Sergej Vikharew und Alexei Ratmansky (die auf denselben Dokumenten aufbauen) sind im Grunde alle unterschiedlich. Ballette werden normalerweise nicht mithilfe von Partituren einstudiert. Die Schritte und Bewegungen werden zumeist von einem Ballettmeister angeleitet und von einer Tänzergeneration zur nächsten weitergegeben. Ganz offensichtlich besteht ein erheblicher Spielraum für Irrtümer und Änderungen, abhängig auch von den technischen Fähigkeiten der Tänzerinnen und Tänzer. Es scheint daher sinnvoller, von verschiedenen Traditionen zu sprechen, etwa der Tradition des Royal Ballet in London, des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg und des Bolschoi-Theaters in Moskau. Heutzutage sollte die Rekonstruktion von "Dornröschen" ein Ergebnis umfangreicher Recherchen sein, wobei die gewählte Fassung letztlich bestimmt wird von persönlichem Geschmack und Instinkt. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann man Petipas Stil für ein heutiges Publikum übersetzen?
In seinen Notizen bezeichnet Petipa die Hauptfigur Aurora als "kokett"; während des Rosen-Adagios wirft sie die Rosen einfach weg, die ihr ihre Verehrer überreicht haben. Ich nehme daher an, dass sie kein besonders artiges Kind war – eher ein verwöhntes Mädchen, deren Eltern sich sehr nach ihm gesehnt hatten und das niemals das Bedürfnis empfunden hatte, einen tieferen Sinn in seinem Leben zu suchen. Der 100-jährige Schlaf ist für mich ein Symbol, dass sie als junge Frau erwachsen wird. Als sie erwacht, begegnen ihr zum ersten Mal im Leben Angst, Einsamkeit und scheinbar auch der Tod. Diese Erfahrung macht sie empfänglich für die Liebe.
Schon 1978 trug der junge Prinz in meinem Ballett Jeans. Aber allzu leicht konnte man vergessen, dass er in unserer Gegenwart lebt. In meiner Neufassung stelle ich seine Entwicklung auch choreografisch dar. Wohl aus Langeweile geht der Prinz mit seinen aristokratischen Freunden in den Wald auf die Jagd; was er dort erlebt, macht sein Gewehr nutzlos, und sein Machogehabe weicht einer Sensibilität, einer inneren Sehnsucht und Verletzbarkeit, die ihn auf die Liebe vorbereiten.
Mit der jahrzehnteüberspannenden Arbeit an "Dornröschen" und seiner fantastischen Tschaikowsky-Partitur erschloss sich mir die Geschichte von zwei jungen Menschen aus getrennten Lebenswelten, die sich für die "ideale Liebe" öffnen. Ich unterlege dieser Märchenoberfläche einen Subtext unserer Wirklichkeit. Indem ich diese Ebene hinzufüge, gewinnt nicht zuletzt die traditionelle Choreografie an Relevanz: Die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, aber auch das Publikum im Saal werden sich der humanen Motivation für die Bewegungen neu bewusst.
Aufgezeichnet von Jörn Rieckhoff
Musik: Peter I. Tschaikowsky
Traditionelle Choreografie nach Marius Petipa
Neue Choreografie, Inszenierung und Beleuchtung: John Neumeier
Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose
Einstudierung der traditionellen Choreografie: Peter Appel, Irina Jacobson, Kevin Haigen
3 Stunden 15 Minuten | 1 Pause
1. Teil: 1 Stunde 25 Minuten, 2. Teil: 1 Stunde 15 Minuten
PREMIERE:
Hamburg Ballett, Hamburg, 16. Juli 1978
ORIGINALBESETZUNG:
Prinzessin Aurora: Lynne Charles
Prinz Désiré: François Klaus
Der Dorn: Max Midinet
Die Rose: Colleen Scott
Catalabutte: Kevin Haigen
Prinzessin Florine: Marianne Kruuse
König Florestan XXIV.: Victor Hughes
Die Königin: Beatrice Cordua
GASTSPIELE:
2005 Yokohama, Fukuoka, Osaka, Tokio 2023 Baden-Baden
NEUFASSUNG 2021 – PREMIERE:
Hamburg Ballett, Hamburg, 19. Dezember 2021
Unterstützt durch die Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper
Das Programmheft ist in unserem Onlineshop erhältlich