Zum Auftakt der Jubiläumssaison kehrt John Neumeiers Ballett nach mehr als 10 Jahren als neu einstudierte Wiederaufnahme auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper zurück
Von Jörn Rieckhoff
John Neumeier sorgte 1997 in der Ballettwelt mit seinem neuesten, abendfüllenden Werk "Sylvia" für Furore. Selbst die "Bild"-Zeitung kommentierte das Schicksal seiner Titelheldin: "Ein komplizierter Seiltanz, wie ihn heute jede Frau kennt." Man muss die Alltagsrelevanz wohl als Kompliment verstehen, denn die Wurzeln von "Sylvia" reichen tief in die europäische Kulturgeschichte zurück. John Neumeiers Ballett ist genau genommen die umfassende Neudeutung eines 1876 aufgeführten Balletts, dessen Libretto ein damals rund 300 Jahre altes Schauspiel von Torquato Tasso frei adaptierte – und dieses Schauspiel wiederum griff den literarischen Trend seiner Zeit auf, indem es die Handlung in einer idyllischen Hirtenwelt ansiedelte, einschließlich zahlreicher Anspielungen auf die antike Literatur und Mythologie.
Da John Neumeier "Sylvia" für das Ballett der Pariser Oper schuf, gibt es weitere Bedeutungsschichten, die vor allem in Frankreich wahrgenommen wurden. "Sylvia" war das erste Ballett, das eigens für das 1875 eröffnete Palais Garnier kreiert wurde, das ebenso prunkvolle wie traditionsreiche Opernhaus der französischen Hauptstadt. Als vorerst letzte maßstabsetzende Ballettproduktion Westeuropas war "Sylvia" zudem das erste Ballett, das sich vom romantischen Idealbild der eher passiven, unerreichbar-schönen Frau löste: Sylvia und ihre Gefährtinnen sind Jägerinnen, sportlich-extrovertiert und unnahbar. Die Ballettmusik von Léo Delibes mit ihren vielen eingängigen Melodien hat sich tief ins kulturelle Gedächtnis Frankreichs gebrannt, und das nicht nur durch die zahlreichen Kaffeehausmusik-Bearbeitungen. Die populären Nummern wurden Klassiker der französischen Ballett-Ausbildung, untrennbar verknüpft mit der Technik des klassischen Schrittvokabulars.
Ein gefragter Gast der Pariser Oper
Vor diesem Hintergrund war die Vergabe einer Neufassung von "Sylvia" an den Amerikaner und Wahl-Hamburger John Neumeier kulturpolitisch keine Selbstverständlichkeit. Die damalige Ballettdirektorin der Pariser Oper Brigitte Lefèvre war sich ihrer Sache jedoch absolut sicher: "Abgesehen von seiner ihm eigenen Begabung ist John Neumeier ein umfassend gebildeter Choreograf, der über großes Wissen über die französische Schule verfügt und tiefen Respekt vor seinen Tänzern hat."
Dazu kommt: John Neumeier war in ihrem Haus bereits zuvor ein gern gesehener Gast. Nachdem er "Vaslaw" 1980 u. a. mit Patrick Dupond präsentiert hatte, wurde er 1982 und 1993 eingeladen, seine abendfüllenden Handlungsballette "Ein Sommernachtstraum" bzw. "Der Nussknacker" mit der Pariser Compagnie einzustudieren. 1987 kreierte er mit "Magnificat" sogar ein eigenes Ballett für das berühmte Ballettensemble. John Neumeier selbst hatte großen Respekt vor dem neuen, ehrenvollen Kreationsauftrag. In einer Ballett-Werkstatt bemerkte er einmal, "Sylvia" für Paris zu kreieren, sei, als ob man eine Neufassung von Mozarts Requiem für Salzburg komponieren sollte.
Geniale Ballettmusik
Von der historischen Sylvia aus dem Jahr 1876 regte John Neumeier vor allem die Musik an. Mit ihr verband er Erinnerungen an seine Zeit als junger Tänzer: Während seines Abschlussjahrs an der Royal Ballet School in London trat er zusammen mit den Profis des Royal Ballet in einer Wiederaufnahme der "Sylvia"-Fassung von Frederick Ashton auf.
Auch wenn Léo Delibes – übrigens Schüler des "Giselle"-Komponisten Adolphe Adam – heute vor allem für seine Ballettmusik zu "Coppélia" bekannt ist, war die Resonanz seiner "Sylvia"-Partitur unter seinen Zeitgenossen besonders groß. Peter Tschaikowsky betrachtete sie als "Musik, die auf ihre ganz eigene Weise wirklich genial ist". Nach einer Aufführung in Wien schrieb er begeistert an seinen Freund Sergej Tanejew: "Welch ein Charme, welche Eleganz, Melodik und Rhythmik und welch ein harmonischer Reichtum! ... Wenn ich diese Musik früher gekannt hätte, hätte ich "Schwanensee" nie geschrieben." Auch der gefürchtete Wiener Kritiker Eduard Hanslick zeigte sich beeindruckt: "... der Reiz dieser graziösen, feingezeichneten und mit der höchsten Sauberkeit kolorierten Musik ließ mich keinen Augenblick los. Der Geist der "Sylvia" steckt im Orchester, nicht auf der Bühne."
Ein neues Konzept
John Neumeier teilte die Einschätzung Hanslicks, dass die Handlung des "Sylvia"-Balletts von 1876, die man im Libretto von Jules Barbier und Jacques de Reinach nachlesen kann, dramaturgisch nicht überzeugend ist: Die Situationen wirken künstlich arrangiert, keine der Figuren hat eine mehrdimensionale Persönlichkeit. In seiner Recherche befasste sich John Neumeier daher ausführlich mit Tassos Hirtenspiel "Aminta" und fand dort ein Grundmotiv, das ihn an eines seiner frühen Ballette aus seiner Zeit beim Frankfurter Ballett erinnerte: "In 'Daphnis und Chloë' sind zwei junge Menschen zunächst nicht fähig, zueinander zu kommen. Erst durch ihre Erfahrungen finden sie einen Weg."
Man kann dies als Keimzelle seiner neuen "Sylvia" ansehen, denn auch hier ist die Handlung motiviert durch die innere, aufeinander bezogene Entwicklung zweier grundverschiedener Figuren. John Neumeier lud dieses zeitlose Handlungsgerüst gleichsam von innen mit neu gedeuteten Motiven der historischen Vorlagen auf. Bei ihm ist die Nymphe Sylvia eine ambitionierte Hochleistungssportlerin in der Disziplin Bogenschießen. Ihre Sportgruppe und die strenge Trainerin Diana füllen ihr gesamtes Leben aus. Als Aminta – schüchtern und schwärmerisch verliebt in sie – diesen geschlossenen Kosmos betritt, liegt eine besondere Spannung in der Luft. Sylvia aber kann und will ihren bisherigen Lebenskreis nicht verlassen und weist Aminta von sich.
John Neumeier baut diesen Grundkonflikt zu einem abendfüllenden Ballett aus, in der Form von "drei choreografischen Gedichten". Im zweiten Teil des Balletts verführt der Gott Amor in Gestalt des schönen Hirten Orion Sylvia dazu, das Leben außerhalb des Trainingsgeländes zu erkunden und sich so ihrer Sinnlichkeit bewusst zu werden. Der dritte Teil zeigt eine erneute Begegnung Sylvias mit Aminta nach einigen Jahrzehnten. Ähnlich wie bei ihrem ersten Zusammentreffen sind ihre Bewegungen zunächst zögerlich. Bald jedoch entwickelt sich ein echter Gefühlsaustausch – ein Ausdruck von Zuneigung, der die Möglichkeit eines erfüllten, gemeinsamen Lebens andeutet. Dafür aber ist es zu spät: Längst sind beide neue Bindungen eingegangen, die eine gemeinsame Zukunft unmöglich machen.
Menschheitsthemen
Als John Neumeier seine "Sylvia" am 30. Juni 1997 im Palais Garnier mit Monique Loudières als Sylvia, Élisabeth Platel als Diana und Manuel Legris als Aminta sowie dem Ballettensemble der Pariser Oper zur Uraufführung brachte, war die Begeisterung im Publikum und unter den Fachkritikern groß. Der Korrespondent des "Münchener Merkur" berichtete von "stürmischem Applaus" und in der Zeitung "Le Figaro" war zu lesen: "Voller Erfindungsreichtum und Frische erscheint uns das Ballett von John Neumeier als einer der großen Erfolge des amerikanischen Choreografen. Die Charaktere sind wahr, ewig, und bedienen sich einer hellen und reichen Sprache."
Am 7. Dezember 1997 erlebte das Werk seine Deutsche Erstaufführung mit dem Hamburg Ballett in der Hamburgischen Staatsoper, gefolgt von "tosendem Applaus". Zahlreiche Journalisten nahmen diese Aufführung zum Anlass, das Verhältnis dieser modernen Neufassung und den historisch-mythologischen Vorlagen zu analysieren; vielfach würdigten sie die tiefgreifenden Verbindungslinien, die John Neumeier in seinem Ballett angelegt hatte. Die "Braunschweiger Zeitung" erlebte "ganz moderne Charaktere ... in einem mythisch-allgültigen Traumland", die "Neue Westfälische" "eine persönliche, aber allgemeingültige ... Sichtweise auf Themen, die die Menschheitsgeschichte seit jeher begleiten".
Die universale Ausdruckskraft von "Sylvia" lässt sich nicht zuletzt an den Übernahmen durch internationale Compagnien ablesen. John Neumeier studierte sein Ballett beim Dutch National Ballet, dem Joffrey Ballet und dem Finnish National Ballet ein. Die Publikumserfolge an den dortigen Häusern belegen, was die "Bild"-Zeitung bereits nach den ersten Hamburger Aufführungen über das Ballett "Sylvia" vermeldete: "Eine poetisch zeitlose und deshalb sehr moderne Choreografie!".
SYLVIA
Musik: Léo Delibes
Choreografie und Inszenierung: John Neumeier
Bühnenbild und Kostüme: Yannis Kokkos
Musikalische Leitung: Markus Lehtinen
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Wiederaufnahme
5. September, 18.00 Uhr
Weitere Aufführungen
8. und 11. September, 19.30 Uhr
17. September, 19.00 Uhr
20. und 21. Mai, 19.30 Uhr
23. Juni, 19.30 Uhr
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