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  • Giselle Roberge / © Holger Badekow
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Nachruf

GISELLE ROBERGE-AGEE
28. September 1948 – 17. September 2024

Giselle Roberge-Agee ist am 17. September 2024 in Hamburg an den Folgen ihrer chronischen Krankheit verstorben. Sie war eine ehemalige Tänzerin (1976-1982) und Ballettmeisterin (1991-2000) des Hamburg Ballett.

Giselle wurde am 28. September 1948 in Cheyenne geboren, der Hauptstadt des amerikanischen Bundesstaates Wyoming, einer kleinstädtisch-ländlichen Region im mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Geprägt wurde sie jedoch mehr durch New York City, durch die intellektuelle und künstlerische Offenheit und Neugier dieser Metropole, ihrer Lebenslust und Leichtigkeit. Dort erhielt sie ihre Ballettausbildung an der von George Balanchine gegründeten School of American Ballet, wo legendäre russische Berühmtheiten des Balletts wie Alexandra Danilowa zum Lehrkörper gehörten.

Giselle wurde ausgewählt, bei der neu etablierten Abschlussvorstellung des Ausbildungsjahres 1965 die schwierige Rolle der Swanilda im 1. Akt von "Coppélia" in der Version von Alexandra Danilowa und George Balanchine zu übernehmen, was darauf schließen lässt, dass sie als außergewöhnlich talentiert eingestuft wurde.

Als sie in das New York City Ballet übernommen wurde, war sie gleich an ihrem beruflichen Ziel angekommen, bei George Balanchine, dem Meister und Genie des neoklassischen Balletts, "Mister B". Schon damals, 1967, noch ganz neu in der Kompanie, tanzte sie als erst 19-Jährige in der Uraufführung von Balanchines "Jewels". Das gesamte Repertoire des NYB und dessen hoher künstlerischer Anspruch schlugen sie sofort in den Bann.

Später tanzte sie auch beim American Ballet Theatre und erweiterte somit ihre künstlerische Karriere um die Zusammenarbeit mit zwei weiteren choreografischen Genies der damaligen Zeit: So tanzte sie in Stücken von Antony Tudor, der diese selbst probte, und ebenso in der Uraufführung von Jerome Robbins' "Goldberg-Variationen". Beim ABT arbeitete sie mit der Crème de la Crème der internationalen Ballettstars zusammen, z.B. mit Rudolf Nurejew und Mikhail Baryshnikov. In dieser Zeit lernte sie auch John Neumeier kennen, der sie in seiner Version von "Le Baiser de la Fée" besetzte, als das Stück beim ABT aufgeführt wurde.

1974 entschied sie sich, Europa eine Chance zu geben, und schloss sich einer Gruppe von Tänzern an, die Glen Tetley begleiteten, als dieser das Stuttgarter Ballett nach dem Tod von John Cranko übernahm. Der Umzug nach Stuttgart war für Giselle jedoch nicht das, was sie sich erhofft hatte, und als das Hamburg Ballett 1975 in Stuttgart gastierte, sprach sie bei John Neumeier vor und wurde im Jahr darauf Mitglied seines Ensembles.

Unter ihren Kolleginnen und Kollegen war Giselle als "schnellste Tänzerin der Kompanie" bekannt, die ebenso über eine große Sprungbegabung wie auch eine furchtlose Attacke verfügte. 1982 kreierte sie die Rolle der Brangäne in Neumeiers "Tristan" zu Musik von Hans Werner Henze.

Im gleichen Jahr beschloss sie, ihre Karriere als Tänzerin zu beenden und sich als Ballettlehrerin niederzulassen. Sie begann in Ulm und wurde durch einen Anruf von Ray Barra aus der deutschen Provinz "gerettet", der sie einlud, zu ihm nach Spanien zu kommen. Zu dieser Zeit leitete er das Ballet del Teatro Lirico Nacional, wo Maya Plissetskaya die künstlerische Leitung innehatte, Ray Barra aber weitgehend das Feld überließ. Das war eine neue Herausforderung für Giselle: Plissetskaya, die als ikonische Bolschoi-Diva verehrt wurde, tanzte immer noch und nahm am Training von Giselle teil. Sie hatten beide völlig unterschiedliche Tanzstile, aber obwohl sie in diesem Sinne keine gemeinsame Sprache sprachen, kamen sie gut miteinander aus.

Von 1991 bis 2000 arbeitete sie als Ballettmeisterin beim Hamburg Ballett. Im Trainingssaal begegnete Giselle den Tänzerinnen und Tänzern mit unvoreingenommenem Respekt. Sie stellte sich immer in den Dienst der Arbeit und war stets exzellent vorbereitet.

Schon 1978 hatte sie Philip Agee geheiratet, einen ehemaligen Offizier des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, der von 1957-69 in Südamerika stationiert gewesen war und 1975 ein Enthüllungsbuch über die Geschäfte der CIA veröffentlichte: "Inside the Company: CIA Diary". Die Verbindung mit diesem politisch aktiven Mann weckte Giselles Neugierde, sich selbst intensiver mit Politik auseinanderzusetzen und ihr Wissen zu erweitern. Das Paar ließ sich schließlich in Havanna auf Kuba nieder, wo Philip weiterhin das politische Geschehen beobachtete. Giselle entschied sich, ein halbes Jahr auf der Insel zu verbringen und die andere Hälfte (während der Hurrican-Saison) als freiberufliche Ballettlehrerin in Europa zu arbeiten. Sie stand oft auf Abruf für die Kompanien ihrer ehemaligen Kollegen und Freunde bereit.

Giselle war eine starke Frau, ein streitbarer Geist und eine engagierte Feministin, die Freundschaft über alles schätzte. Es war ihr ein Anliegen, mit ihren Freundinnen und Freunden in Kontakt zu bleiben, auch und gerade als ihre Krankheit offenbar wurde und ihre Beweglichkeit rasch massiv einschränkte. Ihren typischen New Yorker Humor hat sie sich bis zum Schluss – kurz vor ihrem sechsundsiebzigsten Geburtstag – bewahrt. Wir gedenken ihrer in großer Dankbarkeit.
 

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